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„Jedes Ende ist ein neuer Anfang“

Der Krieg hat viele Ukrainerinnen und Ukrainer aus ihrer Heimat vertrieben, die unter anderem in Berlin eine sichere Zuflucht suchen. Die STADT UND LAND spendete in diesem Jahr 100.000 Euro zugunsten der Ukraine-Hilfe. 40.000 Euro davon gingen an Initiativen in den Bezirken, in denen das Unternehmen die meisten Wohnungsbestände hat. Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf kam die Spende dem Frauentreff HellMa zugute, der psychologische Betreuung anbietet.

Tetiana Kolesnyk
Von ihr stammt die Idee, psychologische Betreuung für Kriegsflüchtlinge anzubieten: die Leiterin des Frauentreffs HellMa Tetiana Goncharuk.
In manchen Fällen rät Tetiana Kolesnyk auch zur Einzeltherapie.

Die ukrainische Psychologin Tetiana Kolesnyk, die sich hier nun für ihre Landsleute engagiert, ist selbst vor dem Krieg geflohen.

Frau Kolesnyk, wann haben Sie sich zur Flucht entschieden?

Ich komme aus Zhytomyr, einer kleinen, gemütlichen und sehr gastfreundlichen Stadt mit vielen historischen Sehenswürdigkeiten, 130 km von Kiew entfernt. Gleich zu Kriegsbeginn, am 24. Februar, wachten wir von einer gewaltigen Explosion auf. Die Warnsysteme für Luftangriffe ertönten, und alle eilten in Luftschutzkeller oder kalte Keller. In den folgenden Tagen zerstörten Raketen den Flughafen, das Öldepot, das Entbindungskrankenhaus, die Schule, in der ich gelernt habe, viele Wohnhäuser. Ich erinnere mich, wie ich eines Nachts im Keller über den Schlaf meiner Kinder wachte, weinte und überlegte, wie ich sie retten kann. Mein Bruder, der schon länger in Berlin lebt, lud uns zu sich ein. Viele verließen zu diesem Zeitpunkt die Ukraine. Geschäftsleute gaben ihre Autos, Busse und andere Fahrzeuge her, übergaben einfach die Schlüssel und sagten: „Retten Sie sich.“ 

War es schwierig, hier als Psychologin anerkannt zu werden, und hilft Ihnen die Arbeit, mit Ihrer eigenen Situation umzugehen?

Ich bin den Organisatoren von Psychological First Aid Ukraine am Berliner Hauptbahnhof sehr dankbar für die Möglichkeit, Geflüchteten aus der Ukraine psychologische Erste Hilfe leisten zu können. Zu den Voraussetzungen gehörten eine abgeschlossene psychologische Hochschulausbildung und Kenntnisse in Krisenpsychologie. Sobald meine Dokumente bestätigt waren, konnte ich anfangen. Und ja, die Arbeit hat mir auch selbst geholfen, meine Kriegserfahrungen zu verarbeiten. Man hört in der psychologischen Notfallhilfe so viele Geschichten von Schmerz, Verzweiflung und Angst um das eigene Leben und das Leben der Angehörigen. Alle Menschen weinen. Mit den Tränen werden spezielle Substanzen freigesetzt, die eine beruhigende Wirkung haben. Und einfach mit der Person zusammen zu sein, ihren Kummer zu teilen und ihr die Möglichkeit zu geben, zu weinen und sich auszusprechen. Bei hysterischen Anfällen ist es wichtig, den Wünschen der Person nicht nachzugeben, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen und plötzlich auf eine Weise zu handeln, die diese Person überraschen könnte. Es ist wichtig, für die Person da zu sein, sich einzufühlen, Unsicherheiten zu tolerieren und gleichzeitig emotional stabil und objektiv zu bleiben, die eigene Geschichte mit der anderen Person zu teilen. Was mir selbst geholfen hat, war die innere Erlaubnis, jede Emotion in einer gesellschaftlich akzeptablen Form zu zeigen.

Wie kann man sich eine Gruppentherapiesitzung bei Ihnen vorstellen?

Die Teilnahme an einer Gruppe vermittelt durch die Entwicklung von Selbstbeobachtungs- und Selbsthilfefähigkeiten ein tiefes Verständnis für die Ursachen der problematischen Reaktionen einer Person sowie die Fähigkeit, in schwierigen Situationen anders wahrzunehmen und zu reagieren. Gruppentherapie hat viele Vorteile, zum Beispiel die Möglichkeit, von anderen zu lernen und zu erkennen, wo die Grenze zwischen mir und ihnen verläuft. Die Erkenntnis auch, dass man nicht der Einzige mit dieser Erfahrung ist, dass andere es geschafft haben und man selbst es auch schaffen kann. In einer Stresssituation hilft soziale Unterstützung der Psyche, die Situation zu bewältigen, sie zu leben und als Teil einer einzigartigen Erfahrung zu integrieren. Es gibt bei mir sowohl feste, geschlossene Gruppen als auch offene. Darüber hinaus gibt es aber auch Fälle, bei denen ich zur Einzeltherapie rate. 

Haben Sie einen Plan, unter welchen Umständen Sie in die Ukraine zurückgehen würden?

Ist dies eine bewusste Entscheidung oder eine notwendige Maßnahme zur Erhaltung des Lebens? In sein Heimatland zurückzukehren, in dem Feindseligkeiten stattfinden, oder in einem anderen Land zu bleiben, das Asyl gewährt hat? Schuld und Verantwortung, wo ist die Grenze? Wie setzt man die richtigen Prioritäten? Deutschland ist ein erstaunliches Land mit einer jahrtausendealten Geschichte und großen Errungenschaften in Technik, Wissenschaft und Kunst. Ich mag die Menschen hier. Sie sind offen, tolerant und hilfsbereit. Aber ich sehe meine Zukunft trotzdem in der Ukraine. Denn wie die berühmte ukrainische Dichterin Lina Kostenko sagte: „Alles im Leben muss erlebt werden und jedes Ende ist im Grunde ein neuer Anfang.“

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