„Gemeinsam einsam – Sind wir auf dem Weg in die chronische kollektive Depression?“
3. Dialogveranstaltung
Datum: 9. Juli 2024
Ort: Xelor Kesselhaus↗Dieser Link führt zu einer externen Seite, Berlin-Neukölln
Einsamkeit ist eine unsichtbare Pandemie mit dramatischen gesundheitlichen und sozialen Folgen. STADT UND LAND diskutierte, wie besonders junge Menschen aus Isolation zurück in die Gesellschaft geholt werden können.
Anke Plättner (Moderation)
Prof. Dr. Manfred Spitzer
Melanie Eckert, Krisenchat
Burak Caniperk, Outreach gGmbH
Elke Schilling, Silbernetz e.V.
Prof. Dr. Claudia Neu
Umut Özdemir, Psychotherapeut
„Einsamkeit ist so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag.“ – Prof. Dr. Spitzer
„Wir holen die Gen Z dort ab, wo sie lebt.“ – Melanie Eckert
„Ich bin oft der erste Mensch, der sie seit Monaten ernst nimmt.“ – Burak Caniperk
„Veränderung beginnt im Alltag.“ – Ingo Malter
Unsere Hauptstadt bietet so einiges: 3,7 Millionen Menschen, grüne Oasen, Clubs, Theater, Kino, Veranstaltungen, Cafés, Kneipen, Restaurants - und unzählige Möglichkeiten, Personen in echt oder virtuell zu finden oder sich zu begegnen. Dennoch fühlt sich jede zehnte Person einsam.
Kürzlich wurden auf einer Konferenz in Berlin die Ergebnisse des Einsamkeitsbarometers vorgestellt, das die Einsamkeitsbelastung beobachtet. Waren vor der Corona-Pandemie bundesweit die ü75-Jährigen am stärksten von Einsamkeit betroffen, sind es seit Corona vor allem die Gruppe der 16-30-jährigen (Studie d. Bertelsmann-Stiftung), in welcher der Anteil der „stark“ und „moderat einsamen“ Personen, je nach Geschlecht und Altersgruppe, zwischen 33 und 51 Prozent liegt.
Es tut weh. Es ist ansteckend und tödlich. So schädlich wie 15 Zigaretten am Tag. Einsamkeit kann die Lebenserwartung verkürzen und Menschen körperlich und seelisch schädigen. Das hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einer ihrer jüngsten Studien nachgewiesen, die Prof. Dr. Manfred Spitzer in seinem Impulsvortrag bei der Dialogveranstaltung der städtischen Wohnungsbaugesellschaft STADT UND LAND am 9. Juli näher erläuterte.
Unter dem Titel „Gemeinsam einsam - Sind wir auf dem Weg in die chronische kollektive Depression?" trafen sich Experten im Xelor Kesselhaus in Berlin-Neukölln. Moderatorin Anke Plättner diskutierte mit allen Gästen über die Krankheit unseres Jahrhunderts, die sich in vielen Ländern der westlichen Welt bereits pandemisch ausgebreitet hat.
„Man darf sich nicht täuschen lassen, denn Einsamkeit betrifft nicht nur ältere Menschen“, warnt der Professor die Zuhörer. Die Corona-Pandemie habe das Gefühl der Einsamkeit in den eigenen vier Wänden verstärkt, vor allem bei den Jüngeren unter 24 Jahren. In dieser Generation beginnt das Gefühl der Einsamkeit bereits digital – weg von sozialen Kontakten, hinein in die Welt der Social Media, die für Psychologen und Jugendsozialarbeiter ein idealer Ort ist, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.
„Gerade die junge Generation fühlt sich zunehmend einsam und nicht dazugehörig. Und das ist nicht nur ein Problem für die Betroffenen, sondern auch für unser demokratisches System“, ergänzt Psychologin und Gründerin der Plattform „Krisenchat“ Melanie Eckert. Wir müssen eingreifen - ihre digitale Plattform „Krisenchat“ macht es vor und holt die Gen Z und Gen Alpha genau in ihren Lebenswelten ab: WhatsApp, Telegram, TikTok und Snapchat - Über 90.000 Anfragen hat Eckerts Team allein in den letzten drei Jahren bearbeitet und Jugendliche aus der Einsamkeit begleitet.
Prof. Dr. Spitzer macht dabei auf einen klassischen Fehler in der Diagnose aufmerksam: Man müsste zwischen sozialer Isolation, Alleinsein und Einsamkeit stark unterscheiden. Denn bei der letzten geht es um eine echte Krankheit, die sich nicht nur auf das Bedürfnis nach dem Allein sein beschränken lässt, sondern bei entsprechendem Leidensdruck therapeutische Maßnahmen erfordert.
Auf der Leinwand hinter Prof. Dr. Spitzer laufen Hirnscans von Betroffenen: Künstliche Intelligenz und ein lernfähiges Computersystem konnten die Befunde und neuronalen Merkmale genauer vergleichen. Die Ergebnisse zeigen: Einsame Menschen haben eine veränderte Hirnstruktur - mit Depressionen, Stresssymptomen und einer geringeren Lebenserwartung als Folge. „Und wenn Einsamkeit Stress verursacht und Stress eine Krankheit ist, dann macht uns Einsamkeit einfach krank.“ - So kamen die Experten in der Fish Bowl-Diskussion auf der Bühne ins Gespräch.
Burak Caniperk arbeitet seit 2017 bei der Outreach gGmbH, einem großen Träger der mobilen Jugendsozialarbeit in Berlin. Mit seinem Team ist er auf der Straße unterwegs, um jungen Menschen Hilfe anzubieten. „Wenn man sich einsam fühlt, ist es leichter, durch falsche Freunde auf die schiefe Bahn zu geraten, die meist zu Drogen und Kriminalität führt“, sagt Caniperk. Viel Platz für Gespräche und Gefühle bleibt dann nicht. Als Straßensozialarbeiter sucht er die Jugendlichen auf und spricht mit Ihnen – und hört oft, dass er der erste seit Monaten ist, der die Jugendlichen erst nähme.
Mit ihren wertvollen Einblicken bereicherten weitere Expertinnen und Experten die Diskussion über Risiken und Lösungsansätzen gegen Einsamkeit. Darunter: die Soziologin Prof. Dr. Claudia Neu, der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Umut Özdemir und Elke Schilling, Gründerin des Vereins silbernetz e.V., der älteren Menschen mit einem einzigen Telefonat gegen die Einsamkeit hilft.
Trotz unterschiedlicher Fach- und Sichtweisen auf das Thema waren sich alle doch in einem Aspekt einig, der STADT UND LAND-Geschäftsführer Ingo Malter in seinen abschließenden Worten gut zusammenfasst:
„Einsamkeit ist nur das sichtbare Ergebnis eines Mangels an Nähe und Kommunikation zwischen den Menschen. Allzu oft verlassen wir uns instinktiv auf „die Institutionen“, obwohl wir wissen, dass die Veränderung bei jedem Einzelnen von uns beginnen muss“, so Malter weiter. „Wohnungsunternehmen können Räume zur Begegnung schaffen oder Institutionen, die entsprechendes tun, finanziell und räumlich unterstützen“, schließt er. Wo ein Raum nicht ausreicht, oder die persönliche Schwelle zum an der Tür der Nachbarin klingeln zu hoch erscheint, kann vielleicht ein Zettel im Briefkasten signalisieren: „Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie, ich bin für Sie da!“ Denn etwas ist noch ansteckender als Einsamkeit - der Wunsch nach Verbindung und der Wunsch, anderen zu helfen.
Die dritte STADT UND LAND Dialog-Veranstaltung befasste sich mit dem Thema Einsamkeit. Prof. Dr. Spitzer lieferte neurologische und gesundheitliche Fakten, die zeigten, wie gefährlich soziale Isolation ist. Melanie Eckert und Burak Caniperk schilderten praxisnah, wie junge Menschen durch digitale Formate oder direkte Ansprache wieder erreicht werden können. Die Diskussion zeigte deutlich, dass Einsamkeit keine Frage des Alters ist – und dass auch Wohnungsunternehmen ihren Beitrag leisten können, um Isolation zu überwinden.
Die Veranstaltung hat gezeigt, wie dringlich und relevant das jeweilige Thema für die Gesellschaft und insbesondere für das Zusammenleben im urbanen Raum ist. STADT UND LAND versteht sich nicht nur als Vermieterin, sondern als aktiver Akteur im gesellschaftlichen Miteinander. Ziel des Formats ist es, Debatten zu ermöglichen, Polarisierungen entgegenzuwirken und Räume für konstruktiven Austausch zu schaffen.
Die Erkenntnisse aus den Veranstaltungen fließen in die tägliche Arbeit ein – sei es durch neue Kommunikationsangebote, Unterstützung von Initiativen oder durch die Gestaltung von Wohnquartieren als Orte des Dialogs.