Das stille Tabu
Einsamkeit und was dagegen hilft
© Britta Pedersen
Darüber spricht man nicht gerne: das Thema Einsamkeit. Doch dahinter verbirgt sich ein zunehmendes Phänomen unserer Zeit; und dies nicht erst seit den Erfahrungen während der Corona-Pandemie. STADT UND LAND – Das Magazin holt das Thema aus der Tabuzone und zeigt Beispiele, wie sich auch einsame Phasen wieder überwinden lassen.
Was ist Einsamkeit? Nicht jeder Mensch, der allein ist, fühlt sich einsam. Umgekehrt können sich Menschen inmitten einer großen Menschenmenge oder auf einer Party einsam fühlen, selbst wenn sie mit anderen sprechen.
Einsamkeit beschreibt ein subjektives Gefühl, das entsteht, wenn soziale Kontakte und Beziehungen nicht den eigenen Erwartungen entsprechen. Dies kann sowohl die Anzahl der Beziehungen als auch die Qualität des Miteinanders betreffen. Entsteht ein Ungleichgewicht, fühlt man sich einsam.
Einsamkeit hat heute oft einen negativen Beigeschmack. Das war nicht immer so. Im Mittelalter bedeutete Einsamkeit das „Einssein mit Gott“, das nur allein erlebt werden konnte. Schweigekloster oder Meditationskurse zeugen noch heute davon. Ein „einsamer Waldspaziergang“ wird ebenfalls meist positiv verstanden. Auch in Caspar David Friedrichs berühmtem Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ würde wohl niemand eine bedrückende Einsamkeit erkennen. Moderne Trends wie „Achtsamkeit“, also Meditation zum Stressabbau, verlangen zumindest temporäres Alleinsein, in dem man sich nur mit sich selbst beschäftigt.
Doch nicht diese Art von Einsamkeit sorgt für die aktuelle gesellschaftliche Debatte. Vielmehr geht es um das Gefühl, unfreiwillig allein zu sein.
Einsamkeit in Zahlen
Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass sich heute vor allem 16- bis 30-Jährige einsam fühlen. Vor den Pandemiejahren betraf dieses Gefühl hauptsächlich Menschen über 75 Jahre. Eine andere Untersuchung ergab, dass sich inzwischen Menschen in der Altersgruppe von 66 bis 75 Jahren am seltensten einsam fühlen. Diese Ergebnisse decken sich mit einer Befragung unter den Mieter*innen der STADT UND LAND. Der Grund: Menschen in dieser Altersgruppe haben oft starke soziale Netzwerke und mehr Zeit für Aktivitäten nach dem Arbeitsleben. Der sogenannte „Unruhestand“ schützt sie vor Einsamkeit. Erst später, wenn Familienmitglieder, Freund*innen und Weggefährten weniger werden und das Leben beschwerlicher wird, nimmt die Einsamkeit zu.
In einer Mieter*innenbefragung der STADT UND LAND äußerten weiterhin 18- bis 29-Jährige am häufigsten Interesse an gemeinsamen Aktivitäten wie zum Beispiel Gärtnern oder Nachbarschaftstreffen. Ein Hauptgrund für ihre Einsamkeit ist oft ein Umzug: Junge Menschen, die nach der Schule in eine andere Stadt ziehen, müssen sich neue soziale Netzwerke aufbauen. Daher gehören sie neben den über 80-Jährigen zu den am stärksten gefährdeten Gruppen.
Ein weiterer, oft unterschätzter Risikofaktor ist Schwerhörigkeit. Ein unbehandelter Hörverlust führt dazu, dass Betroffene sich von Gesprächen ausgeschlossen fühlen oder sich selbst zurückziehen. Der soziale Kontakt verkümmert. Studien zeigen, dass nur fünf Prozent der über 70-Jährigen ein Hörgerät nutzen, obwohl mehr als 40 Prozent der über 65-Jährigen schwerhörig sind.
Einsamkeit bedeutet zudem Stress für den Körper, der wiederum beispielsweise eine Depression oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen kann. Um Einsamkeit also wirkungsvoll zu bekämpfen, bedarf es stabiler sozialer Netzwerke und zahlreicher Gelegenheiten, diese zu knüpfen.
Telefonieren oder treffen?
Das Thema Einsamkeit hat mittlerweile auch die politische Bühne erreicht. Zwar existiert in der deutschen Bundesregierung noch nicht wie in Großbritannien eine eigene Staatssekretärsfunktion für das Thema Einsamkeit, das in den Medien als „Einsamkeitsministerium“ bezeichnet wird. Doch seit Februar 2024 gibt es im Bezirksamt Reinickendorf eine Vollzeit-Einsamkeitsbeauftragte. Diese Position ist bundesweit einzigartig und macht Reinickendorf zu einem kommunalen Vorreiter. Die Bundesregierung hat 2023 eine „Strategie gegen Einsamkeit“ verabschiedet, die Projekte unterstützt, die Angebote gegen Einsamkeit schaffen.
Einen umfassenden Überblick über aktuelle Angebote bietet die Website des Kompetenznetzwerks Einsamkeit. Dazu zählen bekannte Initiativen wie die Telefonseelsorge, deren Ursprung im Jahr 1956 in Berlin liegt. In den vergangenen Jahren hat sich daraus ein Angebot entwickelt, das jährlich mehrere Millionen Menschen anonym nutzen.
Einen besonderen Fokus auf Senior*innen legt der Verein Silbernetz aus Berlin. Elke Schilling, Initiatorin von Silbernetz, wird im November dieses Jahres selbst 80 Jahre und spürt täglich den Redebedarf bei Seniorinnen und Senioren: „Wir haben seit der Gründung 2014 insgesamt über 620.000 Anrufe am Silbertelefon erhalten, aktuell sind es 4.200 Anrufe pro Woche. 80 Prozent der Anrufenden sind Frauen.“ Was ihr auffällt: Auch bei der Einsamkeit gibt es saisonale Unterschiede. Das Angebot wird dementsprechend angepasst: „In der dunklen und kalten Jahreszeit gibt es mehr Anrufe als im Sommer. Deshalb ist das Silbertelefon von Heiligabend bis Neujahr sogar rund um die Uhr geschaltet. Die meisten Anrufe kommen sonntags. Über den Tag gesehen, klingelt es am häufigsten zwischen 8 und 10 Uhr und zwischen 18 und 22 Uhr.“
Ein weiteres Beispiel aus Berlin, das ebenfalls Menschen persönlich zusammenführt: STADT UND LAND – Das Magazin hat bereits in Ausgabe 78 (Mai 2023) über das Projekt „KlingelZeit“ berichtet; ein Besuchs- und Begleitprojekt, bei dem Ehrenamtliche den Alltag von Senior*innen in Neukölln unterstützen und das von der STADT UND LAND unterstützt wird.
„Entschuldigung, ist hier noch frei?“
Noch niedrigschwelliger sind sogenannte Plauderbänke, die es bereits in Pankow, Lichtenberg und im Wedding gibt: Wer hier Platz nimmt, signalisiert seine Bereitschaft zum Gespräch – eine einfache Möglichkeit, das Eis zu brechen und miteinander zu plaudern. Eine der ersten Plauderbänke in Berlin steht übrigens direkt vor dem Büro des Vereins Silbernetz im Wedding.
Ähnlich funktionieren auch Plauderkassen im Supermarkt, deren Ursprung im niederländischen Brabant liegt. Hier bleibt Zeit zum Plaudern und Tratschen, statt schnell zu scannen. Denn gerade moderne Supermärkte mit Selbstbedienungskassen verlieren immer mehr ihre Funktion als soziale Knotenpunkte. Wenn das persönliche Gespräch über Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, den nächsten Arztbesuch oder das Wetter wegfallen, geht der menschliche Faktor verloren. Erste Supermärkte in Deutschland haben das niederländische Konzept erfolgreich ausprobiert und einzelne Kassen als „Plauderzone“ ausgewiesen. Vielleicht gibt es auch bald in Berlin wieder mehr Gespräche im Supermarkt um die Ecke.
Angebote der STADT UND LAND
Die STADT UND LAND ist sich ihrer Verantwortung für ihre Mieter*innen bewusst. Auf der Dialogveranstaltung „Gemeinsam einsam – sind wir auf dem Weg in die chronische kollektive Depression?“ im Juli 2024 betonte Geschäftsführer Ingo Malter: „Einsamkeit ist das sichtbare Ergebnis eines Mangels an Nähe und Kommunikation. Allzu oft verlassen wir uns auf Institutionen, obwohl die Veränderung bei jedem Einzelnen von uns beginnen muss.“ Er fügte hinzu: „Wohnungsunternehmen können Räume zur Begegnung schaffen oder entsprechende Institutionen finanziell und räumlich unterstützen.“
Zu diesen Räumen gehören Nachbarschaftstreffs, die in Kooperation mit der SOPHIA Berlin GmbH in der John-Locke-Siedlung und in der Gothaer Straße in Hellersdorf betrieben werden. Auch eigene Veranstaltungen wie das jeden Sommer stattfindende Balkonkino in Hellersdorf oder andere Gemeinschaftsevents laden zum Kennenlernen ein.
Zudem unterstützt die STADT UND LAND durch Sponsoring Vereine und Initiativen, die in den Kiezen aktiv sind, wie beispielsweise den Verein „MaDonna Mädchenkult.Ur e.V.“ in Neukölln. Der Verein betreibt zwei Treffs für je 30 bis 50 Mädchen und junge Frauen. Dort sollen sie in ihrer Persönlichkeitsbildung gestärkt und für den Berufseinstieg vorbereitet werden. Außerdem werden ihnen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe aufgezeigt und sie vor familiärer Gewalt geschützt.
Einfach den Anfang wagen
Einsamkeit, ob sie nun tatsächlich in unserer Gesellschaft zunimmt oder einfach nur aus ihrem Schatten tritt und mehr Beachtung findet, bleibt eine bedrückende Realität, die krank machen kann. Was dagegen hilft, sind Kontakte und soziale Netzwerke, die auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmt sind. Ein vielversprechender Ausgangspunkt ist die eigene Nachbarschaft. Wagen Sie den Anfang und durchbrechen Sie die Stille! Ein kleiner Zettel im Briefkasten der Nachbarin, mit der Frage, ob sie Lust auf einen gemeinsamen Kaffee hat oder vielleicht Hilfe beim Einkaufen benötigt, kann Wunder wirken. Statt wortlos vorbeizuhuschen, könnte man im Treppenhaus einfach mal nachfragen, wie es dem anderen geht. Oder man schickt einem alten Bekannten eine Nachricht. Diese ersten Schritte mögen klein erscheinen, doch ihre Bedeutung könnte immens sein, als Ausweg aus dem stillen Tabu.
Haben auch Sie Anregungen, wie man mal wieder ins Gespräch kommt? Dann schreiben Sie uns: redaktion@stadtundlande.de